Interview

aus dem Katalog VOLKER SCHULTHEIS Malerei 1982 – 2007

Die Fragen stellte Jörg Jochen Berns (emeritierter Professor des Instituts für Neuere Deutsche Literatur & Medien der Universität Marburg), der die künstlerische Entwicklung von Volker Schultheis seit vier Jahrzehnten mit freundschaftlicher Aufmerksamkeit beobachtet.

Jörg Jochen Berns:
Wann hatten Sie zum ersten Mal den Wunsch, Maler zu werden?

Volker Schultheis:
Das weiß ich noch wie heute. 1944 ertappte ich als Sechsjähriger einen etwas älteren Jungen aus der Nachbarschaft bei einer Sache, die mich ungemein faszinierte. Aus dem Wohnungsfenster heraus hielt er frei Hand eine Flakstellung der deutschen Wehrmacht, die sich in verschneitem Gelände eingegraben hatte, in einer Bleistiftzeichnung fest. Dass das eh schon furcht- und phantasieerregende Sujet der Geschütze, das durch das kontrastreiche Ambiente von Schnee und Dreck noch gesteigert war, von dem Freund so geschickt allein mittels eines Bleistifts auf Papier gebracht wurde, weckte jäh den Wunsch, es ihm nachzutun. Seitdem war ich Maler.

Jörg Jochen Berns:
Was hielten Ihre Eltern denn aber davon? Ihr Vater war ein höchst erfolgreicher, in der Forschung sehr bekannter und einflussreicher Chemiker. Ihre Eltern führten, wenn man so sagen darf, „ein großes Haus“. Passte es da, dass Sie den Wunsch hatten, als Künstler zu leben?

Volker Schultheis:
Zunächst, als ich noch ein Heranwachsender war, waren meine Eltern stolz auf mein künstlerisches Talent. So musste ich oft, wenn Gäste ins Haus kamen, meine neuesten Bilder präsentieren. Später, als es an die Berufswahl ging, drängten sie mich – weil Handwerk angeblich goldenen Boden hat – in eine Grafiker-Ausbildung. Als ich die absolviert hatte, wechselte ich auf eigene Faust an die HdK, die Hochschule für Bildende Künste in Berlin.

Jörg Jochen Berns:
Würden Sie heute noch einmal an einer Kunsthochschule studieren? Bekanntlich gab es in den vergangenen hundert Jahren viele bedeutende Maler, die nie eine akademische Ausbildung absolvierten, die also mehr oder minder als Autodidakten ihren Weg gingen. Man könnte sich auch vorstellen, dass ein junger Künstler als Lehrling oder Assistent eines erfahrenen Malers –
so wie das in früheren Jahrhunderten ja üblich war – seine Kenntnisse gewinnt und entwickelt.

Volker Schultheis:
Wenn Kunsthochschulen in der Weise ausbilden, wie ich es in den sechziger Jahren in Berlin erlebt habe, würde ich von einem Akademiebesuch strikt abraten. Doch birgt die enge Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Künstler für ein junges Talent ebenfalls Gefahren, vor allem die einer zu einseitigen technischen, stilistischen oder ideologischen Orientierung oder auch die, dass man als Zuarbeiter für den Etablierten nicht zu eigenem Arbeiten kommt. Ich könnte mir vorstellen, dass die Arbeit in einer Gruppe von mehreren unterschiedlich erfahrenen Künstlern eine optimale Ausbildung gewährleistete. Aber derlei wird, so fürchte ich, heute nirgends erprobt.

Jörg Jochen Berns:
Was hatten Sie sich in den Sechzigern denn aber von einem Studium an der HdK erhofft?

Volker Schultheis:
Ich hoffte auf diffuse Weise, von hochkarätigen Lehrern wunder was lernen zu können. Schließlich galt die HdK damals als die führende Kunsthochschule der BRD. Man ging zu Professoren, die man vom Hörensagen, aus Zeitungsartikeln oder vielleicht auch durch Reproduktionen des einen oder anderen ihrer Werke kannte. Mehr wusste man nicht, also gab es auch keine im engeren Sinn begründete Lehrerwahl. Ich wusste einfach nicht, wo’s lang gehen sollte. Denn obendrein war
für mich verwirrend, dass ich große Teile der neuesten Malerei, wie sie vor allem aus den USA kam, nicht mochte oder nicht verstand. So konnte ich nicht recht sagen, bei wem ich hätte studieren oder in wessen Atelier ich hätte arbeiten wollen. Das klärte sich dann aber von selbst.

Jörg Jochen Berns:
Das klärte sich, weil Sie nach Paris gingen und Assistent von Hans Hartung wurden. Wie kam es dazu? Hans Hartung, der vor den Nazis aus Deutschland geflüchtet war und in der Resistance gekämpft hatte, war damals ja schon durch seine kühne, kühle abstrakte Malerei hochberühmt. Wieso machte er gerade Sie, der sich ja noch nicht durch eine Vielzahl eigener Arbeiten empfehlen konnte, zu seinem Assistenten?

Volker Schultheis:
Weshalb er mich unter den Bewerbern, die sich auf seine Stellenausschreibung hin gemeldet hatten, auswählte, habe ich nie erfahren. Drei Jahre arbeitete ich in Paris mit ihm zusammen in einem nachgerade zünftlerisch-handwerklichen Verhältnis, denn ich war der „Geselle“, der auf Anweisung des Malers die Farben zu mischen hatte und sie für die Spritzpistolen einstellen musste. Ich hatte die für mich ungewohnt großen, teilweise riesigen Leinwände zu präparieren und sie während des Malprozesses zu manövrieren, dann galt es, Feinkorrekturen mit dem Pinsel vorzunehmen, die Leinwände nach dem Malakt zu firnissen, umzuspannen, zu rahmen und schließlich zu fotografieren. Nebenher war ich noch Hartungs Chauffeur. Alle diese Unterstützung benötigte Hartung, weil er, seit er auf französischer Seite gegen den Einmarsch der deutschen Wehrmacht gekämpft hatte, ein einbeiniger Invalide war.

Jörg Jochen Berns:
Was bedeutete dieses technisch-praktische Lernen bei Hartung für Ihre eigene technische und ästhetische Entfaltung?

Volker Schultheis:
Das ist schwer zu sagen. Ich habe mich nie darum bemüht, ihm stilistisch nachzueifern oder ihn gar zu imitieren. Immerhin aber kann ich sagen, dass seine Selbstdisziplin, seine Ausdauer und seine strenge, fast wissenschaftliche Experimentierfreudigkeit mich beeindruckt und wohl auch beeinflusst haben. Jedenfalls bewunderte ich das. Als ich nach dieser Lehrzeit bei ihm in Paris wieder zurück nach Berlin an die HdK ging, habe ich mich selbst an spritztechnischen Kompositionen versucht. Einige davon besitze ich noch.

Jörg Jochen Berns:
Warum gingen Sie überhaupt wieder von Paris nach Berlin?

Volker Schultheis:
Zwei Faktoren waren für den Entschluss entscheidend: Ich wollte mich intensiv meiner eigenen künstlerischen Arbeit, die in Paris zu kurz gekommen war, widmen und nebenher meinen Abschluss als Meisterschüler machen. Doch ging es auch und vor allem um eine Frau; die hatte ich in Paris kennen gelernt, und sie ging nach Deutschland zurück. Ich folgte ihr und heiratete sie dann.

Jörg Jochen Berns:
Was würden Sie, wenn Sie heute ein fünfundzwanzigjähriger Maler wären, anders machen als damals?

Volker Schultheis:
Ich würde meine Arbeiten besser zusammenhalten und dokumentieren, als ich es damals tat. Ich würde Fotos zusammenstellen und kleine Kataloge drucken, mit denen ich mein Tun dokumentieren und mich in Verhandlungen mit Galerien breiter präsentieren könnte. Ich denke, man muss strenger mit seiner eigenen Arbeit haushalten, als ich es damals tat.

Jörg Jochen Berns:
Für Ihre künstlerische Entwicklung waren aber nicht nur Meister wie Hans Hartung wichtig oder Lehrer wie Hans Jaenisch, als dessen Meisterschüler Sie in Berlin 1970 Ihr Studium abschlossen. Wichtiger noch – und bedeutsam auch für Ihre künstlerische Entfaltung – war dann, dass Sie mit Ihrer Lebensgefährtin zwei Kinder aufzogen und dass Sie – auch unter dem Einfluss der linken Studentenbewegung – zehn Jahre lang, von 1971-1980, in Berlin als Lehrer im Schuldienst tätig waren.

Volker Schultheis:
Ja, diese Zeit möchte ich nicht missen. Die Arbeit als Schullehrer verlangt von dem Künstler einen Perspektivwechsel. Sie zwingt dazu, sich anderen theoretisch und praktisch verständlich zu machen, und sie bringt es mit sich, dass man seine eigenen künstlerischen Wünsche und Möglichkeiten kritisch bedenkt.

Jörg Jochen Berns:
Wie ist es um Ihr Verhältnis mit anderen Malern bestellt? Betrachten Sie die Maler Ihrer Generation mit besonders kritischen Augen? Gibt es unter den zeitgenössischen deutschen Malern welche, die Ihrer Meinung nach überschätzt sind? Und welche bewundern Sie besonders?

Volker Schultheis:
Viele Fragen auf einmal! Ich will versuchen, Sie zu beantworten. Zunächst: Es ist sicher so, dass ich die Maler meiner Generation mit besonderer Aufmerksamkeit, oder genauer: mit einer Art von kritischem Wohlwollen betrachte; wenn sie denn noch in Ausstellungen gelangen. Man kann nicht erwarten, dass Maler der eigenen Generation durch die Jahre hin gleiche Beachtung finden und durch den Ausstellungsbetrieb vergleichbar bleiben. Auch ist die Qualität von Malerei ja nicht grundsätzlich vom Alter ihrer Produzenten abhängig. Es gibt viele Maler, die nach ihren künstlerischen Anfängen nicht mehr besser werden, andere aber durchlaufen eine ganz erstaunliche Entwicklung. Natürlich meinen es das Schicksal und der Kunsthandel nicht mit allen Malern gleich gut. Georg Baselitz z.B. halte ich für grenzenlos überschätzt, auch Jörg Immendorf; hingegen bewundere ich aus tiefstem Herzen zwei so verschiedene Temperamente wie Horst Janssen und Gerhard Richter.

Jörg Jochen Berns:
Sie haben sich, wie auch aus diesem Katalog deutlich wird, seit Ihren ersten Anfängen 1980 thematisch und stilistisch stark verändert. Wie finden Sie zu Ihren Themen? Ergeben sie sich aus Aufträgen? Finden Sie sie bei Ihren Ortswechseln zwischen Berlin und Oberitalien, wo Sie ja jeweils ein Atelier mit anderem Licht in völlig andersartiger Umgebung haben? Malen Sie, was vor der Tür liegt? Oder arrangieren Sie sich Ihre Stillleben?

Volker Schultheis:
Nach der Zeit von 1970-1980, als die Lehrertätigkeit, die ein festes Einkommen garantierte, und das Aufziehen unserer Kinder mich nicht an eigenes künstlerisches Arbeiten hatte denken lassen, konnte und mochte ich nicht an meine eigenen früheren Themen und Verfahren anknüpfen. Ich war, pauschal gesagt, mit dem Informel groß geworden und sah nun, auch aufgrund meiner Erfahrung mit Schülern, darin keine Möglichkeiten mehr für mich. Da ich mich auch keiner der damals valenten neuen Kunstrichtungen anschließen wollte, überließ ich mich den visuellen Eindrücken der mich umgebenden Alltagswelt, der Ambientes, in die ich geriet. Ich sah die Personen, Gegenstände, Landschaften nun mit anderen, neugierigen Augen, und sie blickten zurück. Gewiss ist die Anzahl der alltäglichen Sujets unendlich groß. Mir aber wird zum Thema, was mich individuell affiziert, was mich anspricht und anblickt. Das zeichne und male ich freilich nicht immer just so, wie es mir ins Auge springt. Ich arrangiere, kombiniere und ersinne Beleuchtungen, Verfärbungen, Formkonstellationen. Dabei sind natürlich auch die überindividuellen, kulturspezifischen Sehweisen in meinen Versuchsanordnungen auf die eine oder andere Weise mittelbar wirksam. Doch ist der Blick auf die so genannte Natur, auf die Realität der Dinge, die sich vor mir aufbauen und die ich vor mir aufbaue, ein wichtiges Korrektiv, mittels dessen ich Abweichungen in meiner Arbeit kalkuliere und Fortschritte prüfe. Die Verfahrensweise ist in meinem italienischen Atelier nicht anders als in meinem deutschen. Doch sind Licht und Leben in dem unterschiedlichen Ambiente jeweils so verschieden, dass sich andere Dinge vor Augen stellen und andere Assoziationen aufdrängen.

Jörg Jochen Berns:
Welches Verhältnis haben Sie zu Leuten, die sich für Ihre Bilder interessieren oder sie kaufen? Versuchen Sie, sich über ihre Bedürfnisse und Wünsche Klarheit zu verschaffen, indem Sie mit ihnen sprechen? Versuchen Sie auch später mit Besitzern Ihrer Bilder in Kontakt zu bleiben?

Volker Schultheis:
Das Urteil über meine Arbeiten interessiert mich natürlich immer, zumal bei Leuten, die ich kenne und schätze oder mit denen ich befreundet bin. Wenn Leute, die ich nicht kenne, meine Bilder ausgiebig betrachten, etwa in Ausstellungen, spreche ich sie nicht von mir aus an. Mir ist es recht, wenn sie vor meinen Bildern schweigen – und dann kaufen. Wenn sie aber Fragen zu meiner Malerei haben, beantworte ich sie selbstverständlich; auch wenn sie mit mir über Dinge sprechen wollen, die sie kritisch sehen, spreche ich gern mit ihnen. Denn man bekommt als Künstler ja sonst – außer durch Zeitungskritiker oder Galeristen – keine Resonanz.

Jörg Jochen Berns:
Wie weit soll aber das Gespräch mit Interessenten denn gehen? Greifen Sie Wünsche auf? Malen Sie auf Bestellung?

Volker Schultheis:
Ja, ich schätze es durchaus, wenn Interessenten eigene Vorstellungen haben und Wünsche entwickeln. Denn das befeuert ja auch meine eigene Experimentierfreude. Doch sind solche Gespräche selten. Meistens ist es so, dass jemand, der in einer Ausstellung Arbeiten von mir gesehen hat, bereits Vorstellungen von meinen derzeitigen Vorlieben und Möglichkeiten gewonnen hat. Es kommt vor, dass er dann fragt, ob ich noch mehr Bilder dieser Art und dieses Themas vielleicht im Atelier hätte. Ich male zurzeit etwa fünf bis zehn Bilder pro Jahr. Die sind meist untereinander thematisch und technisch verwandt, bilden also eine bestimmte Serie. Wenn jemand in Kenntnis meiner aktuellen Produktion bestimmte Wünsche zu Format und Farbgebung äußert, suche ich darauf einzugehen. Doch kann es passieren, dass ich zu einer bestimmten Farbigkeit keinen Zugang finde.

Jörg Jochen Berns:
Wie steht es denn mit Ihrer Variationsfreudigkeit? Bleiben Sie gern bei einem Sujet oder auch einem kompositorischen Problem oder bearbeiten Sie mehrere nebeneinander?

Volker Schultheis:
Ach, wissen Sie. Ich male so, wie es mir gerade möglich, sinnvoll und dringlich erscheint. Jedes Bild gewinnt in sich seine eigenen Möglichkeiten des Gelingens oder Scheitern. Es ist wichtig, dass man gelegentlich sein Scheitern erkennt, je früher, desto besser, um daraus Konsequenzen zu ziehen. Man muss vermeiden, dass man sich festmalt, sich in einer Sache verrennt. Deshalb kann es sehr hilfreich sein, wen man an mehreren Bildern zugleich arbeitet und verschiedene Lösungsmöglichkeiten nebeneinander erprobt.

Jörg Jochen Berns:
Wo und unter welchen Konditionen zeigen Sie Ihre Arbeiten am liebsten?

Volker Schultheis:
Ich kann die Frage nicht pauschal beantworten. Wenn man nicht zu den marktgängigsten der heutigen Maler gehört, kann man sich seine Ausstellungsbedingungen ja nicht nach Belieben aussuchen. Doch darf man natürlich auch nicht jede Bedingung akzeptieren. Am liebsten ist es mir, wenn ich in gut besuchten Räumen eine Einzelausstellung von etwa zwanzig Arbeiten präsentieren kann. Das Publikum sollte sachkundig oder doch aufgeschlossen sein. An Gruppenausstellungen nehme ich gelegentlich teil, doch nur dann, wenn mir der Veranstalter bekannt ist, wenn ich die anderen Künstler kenne und wenn mir das gemeinsame Thema gefällt.

Jörg Jochen Berns:
Eine letzte Frage: Was erhoffen Sie sich von diesem Katalog?

Volker Schultheis:
Viele interessierte Betrachter, viele Fragen. Damit es weitergeht.